Tauche ein in das Meer Seiner Barmherzigkeit

Vortrag Dir. Leitner

Vortrag „Die göttliche Barmherzigkeit und die selige Jungfrau Maria“

Paderborn, 6. Oktober 2018, 10.30 Uhr

 „O deus maior est misericordia tua qual iniquitas mea licet mea sit magna nimis“ – „O Gott, Deine Barmherzigkeit ist größer als mein Unrecht, auch wenn dieses allzu groß ist“[1], berichtet Markus von Regensburg über den dankenden Ausruf des Tnugdalus gegenüber Gott dem Herrn. In einem der populärsten mittelalterlichen Berichte über eine Jenseitsreise ist dies zu erfahren.

Die Barmherzigkeit Gottes ist also eine tiefe Erfahrung jener, die sich ernsthaft mit dem allmächtigen Gott beschäftigen. Die göttliche Barmherzigkeit ist kein philosophisches Konstrukt begabter Denker, kein abstraktes Attribut, das große Theologen im Bemühen, Gott Eigenschaften zuzurechnen, formulierten, sondern die tiefe und umwandelnde Erfahrung dessen, der spürt, dass ohne diese göttliche Barmherzigkeit sein Leben längst verwirkt, ja oftmals sogar in der Dunkelheit des Todes verloren wäre.

Der heilige Papst Johannes XXIII. eröffnete mit dieser Glaubenserfahrung der Barmherzigkeit Gottes das 2. Vatikanische Konzil mit den Worten: „Heute aber möchte die Braut Christi lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden als die Waffe der Strenge erheben.“[2]

Bevor wir uns der Betrachtung der seligen Jungfrau Maria hingeben, die wir im Salve Regina als Mutter der Barmherzigkeit anrufen, wollen wir zuerst untersuchen, welche Aufweise uns die Bibel zum Thema „Barmherzigkeit“ liefert.

Sechsmal wird im Alten Testament – nach der Einheitsübersetzung – die Barmherzigkeit Gottes genannt. Das Neue Testament nennt das Hauptwort „Barmherzigkeit“ zwar an vier Stellen, jedoch immer im Zusammenhang mit der Aufforderung an den Menschen, Barmherzigkeit zu üben, die über das Gericht triumphiert.

So sagt König David zu seinem Seher Gad: „Ich habe große Angst. Wir wollen lieber dem Herrn in die Hände fallen, denn seine Barmherzigkeit ist groß; den Menschen aber möchte ich nicht in die Hände fallen.“ (2 Sam 24,14)

Und Raguel preist im Buch Tobit die Barmherzigkeit Gottes: 15 Da pries Raguël Gott und betete: Sei gepriesen, Gott, mit reinem und heiligem Lobpreis. Deine Heiligen und alle deine Geschöpfe sollen dich preisen. Alle deine Engel und alle deine Auserwählten sollen dich preisen in alle Ewigkeit. 16 Sei gepriesen, weil du mir diese Freude bereitet hast und weil nicht eingetroffen ist, was ich befürchtet habe. Du hast uns in deiner großen Barmherzigkeit geholfen. 17 Sei gepriesen, weil du mit diesen beiden Menschen Erbarmen hattest, die die einzigen Kinder ihrer Eltern sind. Herr, hab Erbarmen mit ihnen und lass sie ihr Leben in Gesundheit und Freude verbringen, geschützt von deinem Erbarmen!“ (Tob 8,15-17)

Anders verhält es sich schon mit dem Eigenschaftswort „barmherzig“.

Da bieten uns die Psalmen einen reichen Fundus. Und wir dürfen in diesen heiligen Liedern, denen die kirchliche Tagzeitenliturgie ja einen hervorragenden Platz zuweist, immer neu die Erfahrung des konkreten Menschen mit der Barmherzigkeit Gottes erkennen – und im Gebet uns selbst zu eigen machen.

Ps 111,4: …Er hat ein Gedächtnis an seine Wunder gestiftet, / der Herr ist gnädig und barmherzig.

Ps 103,8: …Der Herr ist barmherzig und gnädig, / langmütig und reich an Güte.

Ps 116,5: …Der Herr ist gnädig und gerecht, / unser Gott ist barmherzig.

Ps 145,8: …Der Herr ist gnädig und barmherzig, / langmütig und reich an Gnade.

Gleiches finden wir auch bei Jesus Sirach 2,11:…Denn gnädig und barmherzig ist der Herr; / er vergibt die Sünden und hilft zur Zeit der Not.

Und im Neuen Bund leitet unser Herr Jesus Christus aus der Barmherzigkeit seines Vaters auch einen Auftrag an seine Jünger ab: Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist. (Lk 6,36)

Und noch stärker formuliert es Petrus in seinem ersten Brief: Endlich aber: seid alle eines Sinnes, voll Mitgefühl und brüderlicher Liebe, seid barmherzig und demütig! (1 Petr 3,8)

Etwas komplizierter wird der biblische Befund, wenn wir die Neo-Vulgata oder auch den hebräischen Text, die Biblia hebraica Stuttgartiensia heranziehen. Denn hier zeigt sich, dass der lateinische Text oftmals das Wort „Misericordia“ verwendet, dem aber im Hebräischen verschiedene Worte grundgelegt sind, nicht allein das rahamim – was einen Hinweis auf die „Eingeweide“ in sich trägt. Es geht Gott also nahe! Es trifft ihn in seinem Inneren!

Der deutsche Text verwendet bei den Synonymen oft Übersetzungen wie „Huld“ oder „Güte“ Gottes.

Alle diese biblischen Zeugnisse, wie auch seine persönliche Lebenserfahrung als Seelsorger, Priester und Bischof, werden unseren Heiligen Vater, Papst Franziskus, dazu bewogen haben, in der Verkündigungsbulle des ausserordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit mit diesen Worten einzuleiten: Jesus Christus ist das Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters. Das Geheimnis des christlichen Glaubens scheint in diesem Satz auf den Punkt gebracht zu sein. In Jesus von Nazareth ist die Barmherzigkeit des Vaters lebendig und sichtbar geworden und hat ihren Höhepunkt gefunden. Der Vater, der »voll des Erbarmens« ist (Eph 2,4), der sich Mose als »barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue« (Ex 34,6) offenbart hatte, hat nie aufgehört auf verschiedene Weise und zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte seine göttliche Natur mitzuteilen. Als aber die »Zeit erfüllt war« (Gal 4,4), sandte Er, seinem Heilsplan entsprechend, seinen Sohn, geboren von der Jungfrau Maria, um uns auf endgültige Weise seine Liebe zu offenbaren. Wer Ihn sieht, sieht den Vater (vgl. Joh 14,9). Jesus von Nazareth ist es, der durch seine Worte und Werke und durch sein ganzes Dasein die Barmherzigkeit Gottes offenbart.[3]

Papst Franziskus bezieht sich mit dem letzten Satz auf die Konstitution Dei Verbum des II. Vatikanischen Konzils, wo es heißt: Wer ihn sieht, sieht auch den Vater (vgl. Joh 14,9). Er ist es, der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch göttliches Zeugnis bekräftigt, daß Gott mit uns ist, um uns aus der Finsternis von Sünde und Tod zu befreien und zu ewigem Leben zu erwecken. Daher ist die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit (vgl. 1 Tim 6,14 und Tit 2,13).[4]

Die Päpste haben ihre Betrachtungen über die göttliche Barmherzigkeit nach dem II. Vatikanischen Konzil fortgesetzt und aneinander gereiht, so zitiert Papst Franziskus in seinem bemerkenswerten Interview-Band „Der Name Gottes ist Barmherzigkeit“ neben der schon erwähnten Eröffnungsrede des heiligen Papst Johannes XXIII., auch den seligen Papst Paul VI., der schrieb „Meine Erbärmlichkeit und Gottes Barmherzigkeit. Könnte ich dich doch wenigstens als den ehren, der du bist, dich wenigstens ehren können, wer du bist, den Gott unendlicher Güte, indem ich deine liebevolle Barmherzigkeit anrufe, annehme und feiere.“[5]

 

Wo können wir Menschen nun diese Barmherzigkeit Gottes erfahren, an der wir selbst Maß nehmen sollen?

Erscheint uns Gott nicht bisweilen dunkel und unheilvoll? Wenn wir von Kriegen hören, von Menschen, die Not leiden, in Krisengebieten, unter dem Terror-Joch des IS? Scheint Gott nicht ferne zu sein, wenn wir von einem kleinen Mädchen hören, das am Schulschikurs an einer Lungenentzündung stirbt, und damit Familie und Klassengemeinschaft in tiefe Trauer gestürzt wird? Erscheint Gott wirklich als der Barmherzige, wenn unser inniges Gebet um Priesterberufungen scheinbar ungehört und unERhört verhallt und die Sorge der Gemeinden immer größer wird, aus der Not heraus neue Strukturkonzepte entwickelt werden müssen?

Es liegt an uns, einen neuen Blick auf die Wirklichkeit werfen. Denn – frei nach George Bernard Shaw – fragen wir sehr gerne das Unglück, das an unsere Tür pocht, ob es sich nicht in der Tür geirrt hat, das Glück hingegen fragen wir nie!

Verwechseln wir nicht vielleicht Äußerlichkeiten, Unheilszusammenhänge, die vielfach in menschlichem Versagen, in menschlicher Kurzsichtigkeit, Uneinsichtigkeit, in Egoismus, etc. begründet liegen, mit dem – dadurch dunkel erscheinenden – Weg Gottes?

Müssen wir nicht weit stärker in die Tiefe unseres Glaubens vordringen, um diese Barmherzigkeit Gottes auch neu und inniger wahrnehmen zu können?

Schauen wir auf diese grundlegenden Glaubenswahrheiten, auf diese unumstößlichen Fakten unserer christlichen Identität, die uns dann plötzlich diesen liebevollen, menschenfreundlichen, ja barmherzigen Gott aufleuchten lassen.

Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen. Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater. 7Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott. (Gal 4,4-7)

In diesem kurzen Abschnitt begegnet uns gleichsam eine ganze „Gewehrsalve“ an Aufweisen der göttlichen Barmherzigkeit.

  • Gott führt die Zeiten zur Erfüllung, zur Vollendung
  • Gottes eingeborener Sohn wird gesandt
  • Gottes Sohn erlöst uns – kauft uns frei
  • Uns wird die Kindschaft geschenkt, wir sind nicht mehr Sklaven
  • Uns wird der Heilige Geist geschenkt
  • Wir dürfen Gott „Abba“, „Vater“, „Papa“ nennen.
  • Wir werden als Erben eingesetzt.

„Zufälligerweise“ 7 Punkte – wieder einmal die Heilige Zahl. Und wir werden im weiteren erkennen, wie „die Frau“, die hier im Galaterbrief genannt wird, unersetzbar in diesem Heilsplan des Herrn ihre Aufgabe zu erfüllen hat.

 

  1. Gott führt die Zeiten zur Erfüllung, zur Vollendung.

„Alles wird schlechter“, „Alles geht den Bach runter“ – Aussagen unserer Zeit! Aber wir Christen sehen die Geschichte anders! Gott führt die Zeiten zur Vollendung. Adrienne von Speyr vergleicht die Jahre, den Ablauf des Kirchenjahres, mit dem Stein in einer Schleuder, der nur darauf wartet, in die Ewigkeit hinausgeschossen zu werden.

Wir Christen erwarten nicht den Weltuntergang, sondern die Wiederkunft des Herrn! Wir erwarten nicht Abstieg, Tod und Vernichtung, sondern den endgültigen Sieg des Reiches Gottes! Das ist die Hoffnung, die uns verbindet, die Freude, die uns aufrichtet und die frohe Gewissheit, die uns Mut macht. Gott schenkt uns nicht Zerstörung und Untergang, sondern über all der menschlichen Zerstörung, über all dem Untergang dessen, was uns als wichtig und richtig in dieser Welt erscheint, strahlt seine göttliche Barmherzigkeit auf, die keinen von diesen Kleinen verloren gehen läßt, die sich an ihm festhalten.

 

  1. Gottes eingeborener Sohn wird gesandt – 3. Er kauft uns frei

Gott ist kein ferner Gott, kein Weltendermiator, der irgendwann diese Welt ins Dasein geschleudert hat, sich aber nicht mehr um sie kümmert. Er ist kein Uhrmachergott, der ein Werkel mit all seiner Gesetzmäßigkeit geschaffen hat, um es dann sich selbst zu überlassen. Gott trägt und hält uns im Dasein. Das ist die tiefe Erfahrung des Volkes Israel, mit dem Gott seinen ersten Bund geschlossen hat. Und der trotz so vieler Untreue des Volkes, so oftmaliger Hinwendung zu anderen Völkern dieses Volk nicht allein gelassen hat, es umworben hat wie die untreue Braut, es immer wieder angenommen hat.

Und das darf noch mehr die tiefe Erfahrung der Kirche sein. Bald steht das Weihnachtsfest vor der Türe, gerade 11 Wochen sind es noch. Gott wird Mensch. Die großartige Kärntner Dichterin Christine Lavant hat einmal die Frage gestellt: „Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet, wenn der Mensch zu schwach ist, hinaufzuschauen“[6] – Ja, können wir der Dichterin entgegenrufen. Der Himmel kniet nieder, wenn wir Menschen zu schwach sind, um die Hand zu erheben, um Gottes Hand zu ergreifen. Gott wird ein kleines Kind mitten in unserer Welt und Zeit. Er wird geboren aus der seligen Jungfrau Maria, die zu Gott ihr unverbrüchliches „Ja“ gesagt hat.  Gottes Sohn wird Mensch, um all die Last und Schwere unseres menschlichen Lebens zu tragen, zu ertragen, zu erlösen. Das feiern wir in der Karwoche und zu Ostern. Nicht nur als Erinnerung an längst Vergangenes. Nein. Im Hier und Jetzt, weil es sich an uns ereignet. Wir sind die Erlösten. Wir sind freigekauft, weil Gott in unserer Wirklichkeit Mensch geworden ist.

 

  1. Nicht mehr Knecht, sondern Kind

Ps 105,42: Denn er dachte an sein heiliges Wort / und an Abraham, seinen Knecht.

Ps 136,22: 22: … der es Israel gab, seinem Knecht, / denn seine Huld währt ewig.

Mit Abraham schließt Gott einen Bund. In einem gewaltigen Zeichen besiegelt er diesen Bund zwischen Gott und Mensch. Der Bund mit Abraham war ein Vorausbild auf den neuen und ewigen Bund. Abraham glaubte Gott, und der Herr rechnete ihm dies als Gerechtigkeit an. Abraham spricht Gott mit Herr an. Er ist sein Knecht, nicht sein Sohn.

In Jesus Christus begegnet uns nicht mehr der Knecht, sondern der Sohn. So beginnt auch der Hebräerbrief mit den wunderbaren Worten: Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; 2in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat; 3er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden bewirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt; (Heb 1,1-3)

Und in diese Sohnschaft, in diese Kindschaft werden wir hineingenommen.

Im 15. Kapitel des Johannesevangeliums sagt Jesus seinen Jüngern: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte… Vielmehr habe ich euch Freunde genannt“ – Der Wiener Erzbischof, Christoph Kardinal Schönborn hat dies ja zu seinem Wahlspruch als Bischof gemacht: „Vos dixi amicos“

Paulus spricht im Galaterbrief dann intensiv von dieser Kindschaft. Wir sind nicht mehr Knechte, nicht Sklaven. Wir sollen auch nicht mehr Sklaven der Sünde sein, schon gar nicht Sklaven des eigenen Ego – eine der am meisten verbreiteten Formen der Sklaverei heutzutage.

Und wir wissen um die besondere Kindschaft, die uns der Herr Jesus Christus vom Kreuz herab geschenkt und zugesagt hat: „Frau, siehe dein Sohn. Sohn, siehe deine Mutter“ – In Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu, sind wir alle Kinder Mariens geworden, Kinder dieser Mutter der Barmherzigkeit!

 

  1. Der Heilige Geist wird uns geschenkt

Das Pfingstfest, wie es uns aus der Apostelgeschichte berichtet wird, ist kein solitäres Ereignis. Der Geist Gottes weht unaufhörlich in seiner Kirche, er wird uns immer neu geschenkt. Das kleine Kind wird in der Taufe mit dem Heiligen Chrisam gesalbt. In der Firmung hören wir die Worte des Bischofs: „Sei besiegelt mit der Gabe Gottes, dem Heiligen Geist!“ und – hoffentlich – beten wir auch immer wieder um die Kraft des Geistes. Nicht nur in der Pfingstnovene. Das „Komm Heiliger Geist“ sollte in unseren täglichen Gebetsschatz aufgenommen sein.

Allein über diese Geistesgabe könnten wir nun eine ganze Exerzitienwoche meditieren. In der Kürze dieses Vortrags können wir einfach um die Kraft, um den Mut, um die Stärke, um die klare Einsicht bitten, dass wir neu verstehen lernen, was uns Gott in seiner Barmherzigkeit schenkt – und dass wir hinausgehen, auf die Strassen und Plätze, in unsere Familie, in unseren Freundeskreis, in unsere Arbeitsstätte – und überall dort mit unserem Tun (mehr als mit Worten) diese Barmherzigkeit Gottes verkünden und leben.

 

  1. Wir dürfen Gott Abba – Vater nennen

Es ist der Geist Gottes, der uns in die Kindschaft einführt, der uns den Mund öffnet, um Gott anzurufen – und ihn in rechter Weise anzusprechen.

Die Jünger bitten Jesus, er möge sie beten lehren. Und der Herr schenkt ihnen – und uns – jene einfachen sieben Bitten des Vater Unser. Ein Gebet, das in die Allgemeinheit christlicher Gebetskultur eingeflossen ist, obwohl damit oftmals die Brisanz dessen, was hier gesagt wird, ein wenig verloren geht.

Denn es ist im ersten das Gebet jener, die in die Jüngerschaft eingetreten sind, die zu zweit, ohne Vorrat, ohne Wanderstock, ohne Vorsorge ausgesandt werden. Jene, die in der Bitte ums tägliche Brot darum bitten, am Abend in einem Haus aufgenommen zu werden, und genügend für den nächsten Tag zu haben.

Wenn wir es in der Sattheit unserer Postpostmoderne beten, so wird die Bitte ums tägliche Brot ebenso abgeflacht wie jene um die Sündenvergebung, wo wir selbst in Unfrieden und mangelnder Bereitschaft zu gelebtem Erbarmen verharren.

Der Gedanke, dass wir alle Söhne und Töchter Gottes sind, dass wir einander Bruder und Schwester sind, sollte hier der erste Schritt für eine ehrliche Bitte um Vergebung und Kraft zum Vergeben sein.

Und es sollte uns ehrfurchtsvoll durchschaudern, dass wir den allmächtigen Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, der alles trägt und lenkt und hält, einfach „Papa“ nennen dürfen. Vater, so vollkommen, wie es kein irdischer Vater jemals zuwege brächte. Papa, so liebevoll, wie kein irdischer Papa jemals zu seinen Kindern sein könnte, vorsorglich und bereit, alles zu tun, um sein Kind zum Heil zu führen.

 

  1. Wir sind als Erben eingesetzt

Gott legt es in unsere Hände. Sein Reich, die Zukunft der Kirche, das Sammeln seiner Jünger. Wir sind als Erben eingesetzt, sagt Paulus der Gemeinde von Galatien. Entdecken wir nicht gerade hier die Großartigkeit der Barmherzigkeit Gottes? Eines Gottes, der jene nicht „enterbt“, die oft kurzschlüssig und kurzsichtig menschliche Wege suchen, die das eigene Ego im Blick haben, statt das Du, statt das Ganze des Heilswerkes?

Es ist Gottes Sehnsucht, bei uns zu sein, uns anzunehmen. Es ist seine Freude, wenn wir seine Barmherzigkeit annehmen. – In der jüdischen Kabbala gibt es den Ausspruch: „Gott tanzte an dem Tag, an dem du geboren wurdest!“ – Besser kann man die Freude Gottes über den Menschen kaum ausdrücken – Nicht nur am Tag unserer Geburt tanzt Gott, sondern immer dann, wenn er in uns Menschen die Offenheit für seine Barmherzigkeit erkennen kann!

 

„Barmherzigkeit ist die Grundeigenschaft Gottes, sie ist nicht eine Art Schwäche, sondern Zeichen seiner Allmacht“, sagte seine Exzellenz, Bischof DDr. Klaus  Küng, der emeritierte Diözesanbischof des dem hl. Hippolyt geweihten Bistums St. Pölten am 15. April 2016 bei der ersten von sechs Katechesen im Jahr der Barmherzigkeit in der Franziskanerkirche in St. Pölten.

Barmherzigkeit ist Ausdruck des dreifaltigen Gottes selbst. Gerade im Kreuzestod seines Sohnes zeigt Gott seine unüberbietbare Selbstoffenbarung, Gott geht um unserer Erlösung Willen in den Tod. Da Gott das Leben ist, ist der Tod der äußerste Gegensatz zu ihm selbst. Hier zeigt sich auch, wie wenig manchmal in der Öffentlichkeit das Symbol des Kreuzes eigentlich begriffen wird. Wir kennen die Diskussionen um das Anbringen von Kreuzen in den Klassenzimmern der Schulen oder Krankenzimmern der Spitäler. Oft genügt ein einziger Kritiker, vielleicht enttäuscht von der Kirche, ausgetreten, übergetreten zu anderen Religionen oder plötzlich Agostiker oder Atheist in Selbstbezeichnung, um einer überwiegenden Mehrheit christlicher Kinder das Symbol des Heiles, der Selbsthingabe Gottes an uns Menschen, das deutlichste Beweisstück seiner Barmherzigkeit zu rauben. Wofür die selige Märtyrernonne Maria Restituta Kafka in den Tod gegangen ist, wird heute oftmals aus falsch verstandener politischer Korrektheit oder Toleranz zum Prinzip erhoben.

Barmherzigkeit ist das grundlegende Thema für das 21. Jahrhundert. Papst Johannes XXIII., Papst Paul VI., Johannes Paul II., Benedikt XVI., und Papst Franziskus haben dies erkannt, und die heiliggesprochene Schwester Faustine Kowalska hatte diesbezüglich eine besondere Aufgabe, so Bischof Küng in seiner Katechese.

 

Es ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass wir Menschen uns mit dem Begriff „Erbarmen“ oder „Barmherzigkeit“ heutzutage schwer tun, schwerer noch als Generationen vor uns. Wir bitten nicht um Erbarmen, sondern wissen uns im Recht und klagen dieses ein. Wir hoffen nicht auf die Gnade des anderen Menschen, schon gar nicht auf die Gnade Gottes, sonder fordern unser Recht – ohne auch auf die Pflichten zu schauen, die uns obliegen, oder gar auf die Vorbedingungen, die so manches Recht auch erst ermöglichen. Die Maxime heute lautet, dass Jeder und jede zu jeder Zeit alles ohne jede Vorbedingung oder Eigenleistung erhalten müsse oder tun dürfe. Denken Sie hier nur an die Frage der Aufweichung des Ehebegriffes in der staatlichen Rechtsordnung,  von eingetragener Partnerschaft über das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare bis zum unterschiedslos gebrauchten Ehebegriff für jedwede Konstellation menschlichen Zusammenlebens.

Der Heilige Papst Johannes Paul II. sagte, dass das Wort und der Begriff Erbarmen den Menschen zu befremden scheint, der dank eines in der Geschichte vorher nie gekannten Fortschrittes Herrscher geworden ist und sich die Erde untertan gemacht hat. Dieses Herrschen über die Erde, das zuweilen einseitig und oberflächlich verstanden wird, scheint verbunden mit einer Ich-Zentrierung für das Erbarmen keinen Raum zu lassen.

Umso mehr leitet der Heilige Johannes Paul daraus die Dringlichkeit ab, der Welt von heute die Barmherzigkeit zu verkünden und zu bezeugen. Barmherzigkeit ist keine abstrakte Idee und Spekulation. Die Barmherzigkeit Gottes eröffnet dem Menschen einen Weg, der ihn zum Ziel führt. Sie richtet auf, weitet das Herz und schenkt Freude und Hoffnung.

Soweit die Hinführung zum Thema „Barmherzigkeit“ – betrachten wir nun Maria als Mutter der Barmherzigkeit.

Die Barmherzigkeit ist „das an meisten überraschende Attribut des Schöpfers und des Erlösers“, sagt Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika  Dives in misericordia, Über das göttliche Erbarmen  (Nr. 13), und niemand auf Erden hat die Barmherzigkeit auf so radikale und umfassende Weise erlebt, wie die selige Jungfrau Maria.

Wenn das Alte Testament diesen so „mütterlichen“ Ausdruck benutzte, sprach es stets von einer aus dem tiefsten Inneren kommenden Zärtlichkeit Gottes für seine Geschöpfe. Es hat aber niemals gewagt zu sagen, dass auch ein menschliches Geschöpf „für Gott Barmherzigkeit empfinden“ konnte. Die große Wende geschah mit der Menschwerdung, als Gottes Barmherzigkeit für den Menschen sich in der Tatsache zeigte, dass Er es einem menschlichen Geschöpf gewährte, Ihm Mutter zu sein und als solche eine aus dem tiefsten Inneren kommende „barmherzige“ Zuneigung für Ihn zu empfinden. Aber das wäre nicht möglich gewesen, wenn Gott nicht schon immer in sich selbst auch „Sohn“ gewesen wäre. Gott hätte diese mütterliche Barmherzigkeit auf Erden nicht empfangen können, wenn nicht seit Ewigkeit im Himmel die Göttliche Person des Sohnes existiert hätte. So offenbart sich in der Weihnachtsikone der Mutter — die in ihren Armen auf unvorstellbare Weise den Gottessohn halten kann, der auch der Menschensohn geworden ist — das „seit Jahrhunderten verborgene Geheimnis“: Der Vater, reich an Barmherzigkeit, sandte seinen eigenen Sohn hinein in jene Schöpfung, die er durch Ihn und in Ihm geschaffen hatte. So schreibt Papst Franziskus in seiner Bulle  Misericodiae Vultus, Das Antlitz der Barmherzigkeit: „Dazu erwählt, die Mutter des Sohnes Gottes zu sein, war Maria von Anbeginn an von der Liebe des Vaters vorbereitet worden, um die Lade des Bundes zu sein, des Bundes zwischen Gott und den Menschen. In ihrem Herzen hat sie die Barmherzigkeit Gottes bewahrt, in völligem Einklang mit ihrem Sohn Jesus“ (Nr. 24)

Wenn wir also Maria die „Mutter der Barmherzigkeit“ nennen, sagen wir damit, dass sie wie keine andere auf menschliche, zutiefst innige Weise das Geheimnis von „Gottes Sohnsein“ kennt, in dem wir alle zu „Kindern im Sohn“ geworden sind. Bei der Geburt Jesu hält Maria also Gottes Barmherzigkeit in den Armen, auch wenn diese sich erst im Ostergeheimnis voll offenbaren sollte. Hier können wir uns an die herrliche Meditation von Johannes Paul II. In seiner Enzyklika „Über das göttliche Erbarmen“ Nr. 9 erinnern:

Maria hat auch auf besondere und außerordentliche Weise − wie sonst niemand − das Erbarmen Gottes erfahren und ebenso auf außerordentliche Weise mit dem Opfer des Herzens ihr Teilnehmen an der Offenbarung des göttlichen Erbarmens möglich gemacht. Dieses Opfer lebt ganz aus der Kraft des Kreuzes, unter das sie als Mutter gestellt war; es ist eine einzigartige Teilnahme an der Selbstoffenbarung des Erbarmens, das heißt an der absoluten Treue Gottes zu seiner Liebe, zu seinem Bund mit dem Menschen, dem Volk und der Menschheit, den er von Ewigkeit her wollte und den er in der Zeit geschlossen hat; es ist die Teilnahme an jener Offenbarung, die im Kreuz ihren Höhepunkt gefunden hat. Niemand hat so wie die Mutter des Gekreuzigten das Geheimnis des Kreuzes erfahren, diese erschütternde Begegnung der transzendenten göttlichen Gerechtigkeit mit der Liebe, diesen »Kuss« zwischen Erbarmen und Gerechtigkeit. Niemand hat wie Maria dieses Geheimnis mit dem Herzen aufgenommen: die wahrhaft göttliche Dimension der Erlösung, die sich vollzog durch den Tod des Gottessohnes auf Golgota zusammen mit dem Herzensopfer seiner Mutter, zusammen mit ihrem endgültigen »Fiat«.

 

Wie waren die beiden „Fiat“, die zwei Erfahrungen von Barmherzigkeit in ihr miteinander verknüpft – das Fiat von Weihnachten und das Fiat von Ostern? Betrachten wir sie auf dem Kalvarienberg, direkt am Fuß des Kreuzes, an das man ihren Sohn genagelt hatte. Die Jünger waren geflohen, und es waren nur einige Frauen bei ihr geblieben, die Jesus treu waren und ihn liebten, sowie Johannes, der Lieblingsjünger Jesu. Sicher war auch Maria von der Finsternis umgeben, die die Welt verdunkelte. Die grausamen Folterqualen ihres Sohnes zerrissen ihr das Herz, aber ihre Seele war verwundet durch das unerklärliche Schweigen des Himmels. Sie kannte das Geheimnis von Jesu Empfängnis, sie wußte, dass er Gott zu Recht seinen Vater nannte; sie wusste, dass ihm ein Reich ohne Ende verheißen war. Aber dort am Kreuz schien der Sohn umsonst zu beten. Jesus sagte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen…!“ Und Maria wußte, dass er einen Psalm betete. Sie konnte sogar die Worte mitbeten, aber ihr schauderte bei dem bloßen Gedanken an die Verse, die sofort danach folgten: „Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, mich barg an der Brust meiner Mutter. Von Geburt an bin ich geworfen auf dich, vom Mutterleib an bist du mein Gott. Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe, und niemand ist da, der hilft!“

Maria wußte, wie sehr all diese Worte, jedes einzelne, wahr waren, wortwörtlich wahr! Sie stand unter dem Kreuz, um sie mit dem Wunder ihrer ewigen Jungfräulichkeit zu bezeugen. Sie war die Mutter, die ihren Schoß Gott dargeboten hatte. Aber Gott, der Vater, schwieg. Erst im letzten Augenblick, bevor er sein „Es ist vollbracht“ ruft und sich dem Vater mit einem letzten Impuls seines Sohnseins anvertraut, enthüllt Jesus selbst das Geheimnis. Der Himmlische Vater hat den Sohn hingegeben „zum Heil für alle“, hat Ihn aus Liebe in die Hände der Sünder gegeben, und der Sohn hat dem nicht nur freiwillig zugestimmt, sondern wollte auch, dass seine irdische Mutter diesem süßen und furchtbaren Tausch zustimmte.

Und da war noch mehr. Maria verstand jetzt, dass sie selber an diesem Tausch teilhatte. Ihre unbefleckte Empfängnis, jene Gnade, die sie von jeher umfing, war Frucht dieses Blutes, das ihr Sohn vergossen hatte. Und zum ersten Mal spürte sie mit ihrer ganzen Existenz, dass sie wahrhaft die „Tochter des Sohnes“ war, von Ihm gemacht, von Ihm erlöst. Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe dein Sohn. Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter!“ Und von jener Stunde an akzeptierte Maria, mit der Leidenschaft der Zuneigung und einer neuen Geburt, die Mutter „ihres Sohnes Johannes“ zu sein und die Mutter aller Gläubigen, die er symbolisierte. Wie es der Katechismus der Katholischen Kirche sagt: „Zu Füßen des Kreuzes wird Maria erhört. Denn sie ist die Frau, die neue Eva, die wahre „Mutter der Lebendigen“ (Nr. 2618), und von da an wusste die Kirche, dass sie eine Mutter hat, und Maria wußte, dass sie unzählige Kinder hat, die sie stets anrufen würden: „Gegrüßet seist du Königin, Mutter der Barmherzigkeit: unser Leben, unsere Wonne und unsere Hoffnung, sei gegrüßt! Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas, zu dir seufzen wir, trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen. Wohlan dem, unsere Fürsprecherin, wende deine barmherzigen Augen uns zu, und nach diesem Elend [d.h. diesem Exil, diesem Leben in der Fremde] zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes, O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria.

Ein wenig möchte ich noch diesen wohl zu den schönsten Mariengebeten gehörenden Lobpreis der Mutter der Barmherzigkeit betrachten. In wunderschönen Melodien wird er am Ende des Tages in verschiedenen Klöstern gesungen, oft mit einer kleinen Lichterprozession zur Madonnenstatue im Kreuzgang verbunden.

 

„Wende deine barmherzigen Augen uns zu!“ – Bei diesen Worten denke ich an den Hl. Josefmaria Escriva, der mit dem letzten Blick auf die kleine Madonnenstatue in seinem Zimmer in die Ewigkeit einging, im tiefen Bewusstsein, im gläubigen Vertrauen darauf, dass der liebevolle Blick Mariens, ihre „Barmherzigen Augen“ ihn geleiten wird auf dem Weg zum Vater.

Wir dürfen auch an die Worte des Heiligen Märtyrers Maximilian Maria Kolbe denken, der in der Hölle von Ausschwitz für einen Familienvater sein Leben hingegeben hat, der während seiner Studienzeit in Rom in sein Tagebuch schrieb: „Muttergottes, halte mich ganz fest, sonst stürze ich in den tiefsten Abgrund der Sünde!“

Eines der schönsten Gebete der Christenheit – leider viel zu wenig bekannt und verwendet – wird bei den Sterbenden gebetet, es kann auch heute noch verwendet werden: „Profiscere, anima Christiana“ – „Brich auf, christliche Seele“. Im Moment des Sterbens wird gebetet, dass Maria dem Sterbenden entgegen komme und ihn mit ihren barmherzigen Augen ansehen möge. Was muss das sein, ihren Augen, ihrem Blick zu begegnen!

Wie war das, bei Bernadette Soubirous (1879) oder den drei Kindern von Fatima? Doch es sind nicht die Seher allein, es gibt ein überwältigendes Zeugnis von Menschen aller Völker, dass Maria überall, in allen Ländern der Erde als „Mutter der Barmherzigkeit“ aufgesucht und geliebt wird.

Sie kennen sicherlich auch das „Sub tuum praesidium“ – „Unter deinen Schutz und Schirm“ – es ist eines der ältesten überlieferten Mariengebete.

Die ältesten erhaltenen Fassungen dieses Gebets (auf Papyrus) haben eine schöne Besonderheit. Der Beginn lautet nicht „unter deinem Schutz und Schirm“ sondern „unter deine Barmherzigkeit fliehen wir, Gottesgebärerin“[7]. Das Wort eusplanchnía meint den guten Mutterschoß, die „Eingeweide des Wohlwollens“, also das Mutterherz im vollsten Sinn: Zu deinem Mutterherzen flüchten wir, in deinem Mutterschoß bergen wir uns. Alles, was die Mutter ausmacht, ist angesprochen: ihr Blick, ihr Herz, ihr Schoß.[8]

Bei seinem letzten Polen-Besuch sagte Papst Johannes Paul II. in Kalwaria Zebrzydowska, dem von ihm so geliebten Wallfahrtsort nahe seiner Geburtsstadt und nahe Krakau:

Wie oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Mutter des Sohnes Gottes ihre barmherzigen Augen auf die Sorgen des bekümmerten Menschen richtet und ihm die Gnade erwirkt, schwierige Probleme zu lösen, und dass er, in der Kleinheit seiner Kraft, von Staunen erfüllt wird angesichts der Kraft und der Weisheit der Göttlichen Vorsehung[9].

Das ist die Erfahrung des Papstes, der eine so tiefe, innige Beziehung zur Mutter der Barmherzigkeit hatte.

Was ist das Geheimnis Mariens? Warum berührt sie so unvergleichlich die Herzen? Ist sie uns Menschen näher als der Gott? Näher selbst als der Sohn Gottes? In einer Predigt zum Fest Mariä Geburt sagt der Heilige Bernhard von Clairvaux (1153) tatsächlich etwas in diesem Sinn. Das mag verwundern und scheint gewisse Vorurteile zu bestätigen, dass die Marienverehrung sich zwischen Gott und uns dränge und so eine Verfälschung des ursprünglich Christlichen darstelle, weil allein Christus der Mittler des Heils ist. Die Predigt des Heiligen Bernhard wird uns weiterhelfen.

„Aus tiefstem Herzensgrund, mit der ganzen Liebe unseres Gemütes und aller Hingabe wollen wir diese Maria ehren, denn so ist der Wille Gottes: er wollte, dass wir alles durch Maria haben. Ja, das ist sein Wille, doch für uns. In allem und durch alles sorgt er nämlich für die Elenden: er lindert unsere Angst, weckt den Glauben, stärkt die Hoffnung, überwindet das Misstrauen, richtet den Kleinmut auf. Vor den Vater hinzutreten hattest du Angst; schon allein beim Hören erschrakst du und flohst zu den Blättern: So gab er dir Jesus als Mittler. Was würde ein solcher Sohn bei einem solchen Vater nicht erlangen? Er wird sicher um seiner Ehrfurcht willen erhört werden (Hebr 5,7), denn „der Vater liebt den Sohn“ (Joh 5,20). Oder zitterst du auch vor ihm? Dein Bruder ist er und dein Fleisch, er wurde in allem in Versuchung geführt, ohne zu sündigen (Hebr 4,15), „um barmherzig zu werden“ (Hebr 2,17). Ihn gab dir Maria als Bruder. Doch vielleicht erschrickst du auch bei ihm vor der göttlichen Majestät, denn obwohl er Mensch wurde, blieb er doch Gott. Willst du auch bei ihm einen Fürsprecher haben? Wende dich an Maria! Reine Menschlichkeit findest du bei Maria, nicht nur rein von jeder Befleckung, sondern auch rein, da sie nur diese Natur besitzt. Und ich möchte sagen, ohne zu zweifeln: Auch sie wird um ihrer Ehrfurcht willen erhört werden. Erhören wird doch der Sohn die Mutter, und erhören wird der Vater den Sohn. Meine lieben Söhne, das ist die Leiter für die Sünder, das meine größte Zuversicht, das der ganze Grund meiner Hoffnung! Wieso denn? Kann der Sohn etwa zurückweisen oder eine Zurückweisung erhalten? Dass er nicht hört oder nicht gehört wird – kann das beim Sohn vorkommen? Sicher keines von beiden! „Du hast“, sagt der Engel, „bei Gott Gnade gefunden.“ (Lk 1,30) Welch ein Glück! Immer wird Maria Gnade finden, und nur Gnade ist es, was wir brauchen. Die kluge Jungfrau verlangte nicht nach Weisheit wie Salomo, nicht nach Reichtum, nicht nach Ehren, nicht nach Macht, sondern nach Gnade. Allein die Gnade ist es nämlich, durch die wir gerettet werden.“[10]

 

So können wir abschließend sagen: Wo wir Maria als Mutter der Barmherzigkeit verehren, sind wir einerseits direkt verwiesen auf ihren göttlichen Sohn, auf diese menschgewordene Barmherzigkeit Gottes, die uns durch die selige Jungfrau gebracht wird. Damit ist Marienfrömmigkeit kein Umweg, Maria steht auch nicht zwischen Gott und uns, sondern sie fördert und begleitet unseren Weg zur einer klaren Erkenntnis der Barmherzigkeit unseres himmlischen Vaters.

Marienfrömmigkeit wird oftmals als Seitenweg oder gar Sackgasse gesehen. Und es mag schon stimmen, dass es so manche überbordende Formen gibt, die vielleicht diesen Eindruck verstärken. Doch mit einem klaren Blick auf die selige Jungfrau, die selbst den Pilgerweg des Glaubens gehen mußte, wie das II. Vatikanische in Gaudium et Spes sagt, die uns Vorbild ist in diesem Pilgerweg des Glaubens, Vorbild in ihrem doppelten Fiat – dem Willen des himmlischen Vaters gegenüber bei der Menschwerdung des Gottessohnes und bei der Selbsthingabe des Erlösers am Holz des Kreuzes -, Vorbild in ihrer Hoffnung gegen alle Hoffnungslosigkeit, in ihrem Mut gegen alle Ängstlichkeit sogar seiner engsten Vertrauten. In der tragischen Stunde des Kreuzes ist sie uns zur Mutter gegeben. Als Brüder und Schwestern dieser menschgewordenen Barmherzigkeit Gottes sehen wir dadurch auch unseren Auftrag: Die Barmherzigkeit zu leben, als Abbild und Spiegelbild jener Barmherzigkeit, die Gott uns erwiesen hat und immer neu erweist.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

[1] Visio Tnugdali, Kap 1, Pkt. 26, in Fontes Christiani, Band 74 „Marcus von Regensburg, Vision des Tnugdalus, Freiburg im Breisgau 2018, S. 80/81

[2] zitiert in: Papst Franziskus, „Der Name Gottes ist Barmherzigkeit“, München 2016, S. 34

[3] Papst Franziskus, „Miserciodrdiae vultus – Verkündigungsbulle des ausserordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit“, Rom, 11. April 2015, Pkt. 1

[4] II. Vatikanisches Konzil,„Dogmatische Konstitution Dei Verbum über die Göttliche Offenbarung“, Rom, 18. November 1965, Pkt. 4

[5] zitiert in: Papst Franziskus, „Der Name Gottes ist Barmherzigkeit“, München 2016, S. 35

[6] Christine Lavant: „Es riecht nach Schnee“ in: Adolf Haslinger, Hg., „Weihnachten. Dichtung und Wahrheit rund ums Fest“, Residenz Verlag, Salzburg 2000

[7] vgl. H. Förster, zur ältesten Überlieferung der marianischen Antiphon „Sub tuum praesidium“, in: biblos. Beiträge zu Buch, Bibliothek und Schrift, Bd. 44,2, Wien 1995, 183-192)

[8] vgl. Christoph Card. Schönborn, 8. Katechese über die Göttliche Barmherzigkeit, gehalten im Wiener Stephansdom am 4. Mai 2008, Quelle: www.erzdioese-wien.at

[9] Papst Johannes Paul II.: Homilie am 19. August 2002

[10] Bernhard v. Clairvaux, Werke Bd. VIII, S. 629