Tauche ein in das Meer Seiner Barmherzigkeit

„Das ist die große Zeit der Barmherzigkeit“

Zum außerordentlichen Heiligen Jahr, das an diesem Samstag für die Weltkirche ausgerufen wird: Eine Vertiefung des Begriffs Barmherzigkeit mit Papst Franziskus, zusammengestellt von Radio Vatikan-Redakteur Stefan von Kempis.Barmherzigkeit ist der entscheidende Begriff im Denken von Franziskus. Würde man sein Denken mit einem einzigen Wort zusammenfassen, dann mit diesem. Es taucht auch in seinem Bischofs- und Papstmotto auf: „Miserando“, der Herr erbarmte sich. „Lassen wir uns von der Liebe Gottes überfluten“ (Angelus, 12.1.14), ruft er: „Das ist die große Zeit der Barmherzigkeit!“ (Ebd.) Und auf die Frage eines Journalisten, ob man Katholiken, die geschieden sind und die wieder geheiratet haben, nicht doch zu den Sakramenten zulassen könne, antwortet er ganz ähnlich: „Die Barmherzigkeit ist größer als jener Fall, den Sie vorstellen. Ich glaube, dass dies die Zeit der Barmherzigkeit ist“ (auf dem Flug von Rio nach Rom, 28.7.13). Womit er allerdings nicht direkt auf die Frage geantwortet hat.Franziskus Werben um Barmherzigkeit gilt nach außen wie nach innen, in die Kirche hinein: „Dieser Epochenwechsel, auch viele Probleme der Kirche … haben viele Verwundete hinterlassen, viele Verwundete. Und die Kirche ist Mutter: Sie muss hingehen und die Verwundeten pflegen, mit Barmherzigkeit. Wenn aber der Herr nicht müde wird zu verzeihen, haben wir keine andere Wahl als diese“. Der Vater des verlorenen Sohns, von dem das Gleichnis Jesu im Lukasevangelium erzählt, habe diesem nach der Rückkehr keine Vorhaltungen gemacht: „,Aber du, hör mal, komm herein: Was hast du denn mit dem Geld gemacht?‘ Nein! Er hat ein Fest gefeiert! … So muss es die Kirche machen“ (ebd.). Das Gleichnis vom verlorenen Sohn gehört offensichtlich zu den Lieblings-Bibelstellen des Papstes, immer wieder kommt er darauf zurück.Bei einem Angelusgebet in Rom erinnerte sich Franziskus einmal daran, wie er als Bischof 1992 in Buenos Aires mit einer alten Frau ins Gespräch gekommen war, die bei ihm beichten wollte. „‚Aber wenn Sie nicht gesündigt haben …’ Und sie hat mir erwidert: ‚Alle haben wir Sünden …’ ‚Doch vielleicht vergibt sie der Herr nicht …’ ‚Der Herr vergibt alles’, antwortete sie mir mit Überzeugung. ‚Frau, wie aber können Sie das wissen?’ ‚Wenn der Herr nicht alles vergäbe, gäbe es die Welt nicht.’ Ich hätte sie gerne gefragt: ‚Sagen Sie mir, liebe Frau, haben Sie an der Gregoriana studiert?’“ (Erster Angelus, 17.3.13) Die Gregoriana ist die traditionsreiche Jesuitenuniversität in Rom – an der Bergoglio, obgleich Jesuit, nicht studiert hat.

Im Deutschen klingt ‚Barmherzigkeit“ etwas altbacken und schwammig, manchmal schwingt sogar ein negativer Unterton mit. Aber für Franziskus ist das nicht so. Er weist darauf hin: „Das kommt aus dem Evangelium. Das ist das Zentrum des Evangeliums“ (Interview mit dem Corriere della Sera, 5.3.14). Für ihn ist „das die stärkste Botschaft des Herrn: die Barmherzigkeit“ (Predigt in der Vatikanpfarrkirche, 17.3.13).

In seinem Schreiben „Evangelii Gaudium“ führt er detailliert aus, wie zentral der Ruf nach Barmherzigkeit im Alten wie im Neuen Testament ist. Er listet auch alle einschlägigen Bibelstellen auf, um dann zu folgern: „Das ist eine so klare, so direkte, so ein­fache und viel sagende Botschaft, dass keine kirchliche Hermeneutik (= Auslegung, Anm. d. Autors) das Recht hat, sie zu re­lativieren … Warum verkomplizieren, was so einfach ist? … Jesus hat uns mit seinen Worten und seinen Taten diesen Weg der Anerkennung des anderen gewiesen. Wa­rum verdunkeln, was so klar ist? Sorgen wir uns nicht nur darum, nicht in lehrmäßige Irrtümer zu fallen, sondern auch darum, diesem leuchten­den Weg des Lebens und der Weisheit treu zu sein“ (Nr. 194).

Außerdem ist Barmherzigkeit für Papst Franziskus kein schwammiger Begriff und „nicht nur ein Gefühl, sie ist eine Kraft, die Leben schenkt, die den Menschen erweckt!“ (Angelus, 9.6.13) Gottes Barmherzigkeit mit den Menschen sei wie das Mitleid einer Mutter, und Jesus sei die Barmherzigkeit in Person. „Die Freude Gottes ist das Vergeben … Hier ist das ganze Evangelium! Hier! … Aber aufgepasst, das ist kein Gefühl, das ist kein ‚Gutmenschentum’! Im Gegenteil, die Barmherzigkeit ist die wahre Kraft, die den Menschen und die Welt vor dem ‚Krebsgeschwür’ retten kann, das die Sünde ist … Allein die Liebe erfüllt die Leere, die negativen Abgründe, die das Böse im Herzen und in der Geschichte aufreißt“ (Angelus, 15.9.13).

Sogar da, wo Theologen mahnend vom Jüngsten Gericht sprechen, trägt Franziskus den Begriff ‚Barmherzigkeit’ ein. Das ist besonders interessant, weil der Papst durchaus an der kirchlichen Lehre vom Teufel und vom Gericht festhält, in einem sehr buchstäblichen Sinn. „Manchmal scheint es uns, als antworte Gott nicht auf das Böse, als verharre er im Schweigen“, sagte er bei seinem ersten Kreuzweg am römischen Kolosseum (29.3.13). „In Wirklichkeit hat Gott gesprochen, er hat geantwortet, und seine Antwort ist das Kreuz Christi: ein Wort, das Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung ist. Es ist auch Gericht: Gott richtet uns, indem er uns liebt“ (ebd.). Darum habe ein Mensch, der barmherzig gegenüber anderen sei, keine Angst vor dem Tod. „Denkt gut darüber nach: Wer Barmherzigkeit übt, fürchtet den Tod nicht! … Und warum fürchtet er den Tod nicht? Weil er ihm ins Gesicht schaut in den Wunden der Brüder und ihn mit der Liebe Jesu Christi überwindet“ (Generalaudienz, 27.11.13).

Das wirkliche Problem sei doch, so glaubt der Papst, „dass wir nicht wollen, dass wir es müde werden, um Vergebung zu bitten. Er (Gott) wird es nie müde, zu vergeben, doch wir werden bisweilen müde, die Vergebung zu erbitten“ (Angelus, 17.3.13). Und außerdem hätten wir schnell die Tendenz, „dass wir uns für gerecht halten und über die anderen urteilen. Wir urteilen auch über Gott, weil wir denken, dass er die Sünder züchtigen, zum Tod verurteilen sollte, statt ihnen zu vergeben. Ja, dann laufen wir Gefahr, draußen vor dem Haus des Vaters zu bleiben!“ (Angelus, 15.9.13) Da sind wir wieder beim von Franziskus vielzitierten Gleichnis vom verlorenen Sohn: Diesmal spielt er auf den älteren Bruder an, der sich darüber ärgerte, dass der Vater bei der Rückkehr des Ausreißers gleich das Mastkalb schlachten ließ.

„Erinnern wir uns daran in unserem Leben als Christen: Gott wartet immer auf uns, auch wenn wir uns entfernt haben! Er ist niemals fern, und wenn wir zu ihm zurückkehren, ist er bereit, uns in seine Arme zu schließen“ (erste Messe in der Lateranbasilika, 7.4.13). Das sollte uns, findet Franziskus, dazu ermutigen, „zu ihm zurückzukehren, ganz gleich welchen Fehler, welche Sünde es in unserem Leben gibt“. Sicher denke mancher, er könne nicht mit Gottes Barmherzigkeit rechnen, weil er einfach zuviel auf dem Kerbholz habe: „Doch Gott wartet gerade auf dich, er verlangt von dir nur den Mut, zu ihm zu gehen … Für Gott sind wir keine Nummern, wir sind ihm wichtig, ja, wir sind das Wichtigste, das er hat; auch wenn wir Sünder sind, sind wir das, was ihm am meisten am Herzen liegt“ (ebd.).

Er habe im Lauf seines Lebens „viele Male das barmherzige Antlitz Gottes, seine Geduld gesehen“, bekennt der Papst. „Bei vielen Menschen habe ich auch den Mut beobachtet“, wie der ungläubige Thomas „in die Wunden Jesu hineinzufassen und ihm zu sagen: Herr, da bin ich, nimm meine Armut an, verbirg meine Sünde in deinen Wunden, wasche sie rein mit deinem Blut. Und ich habe immer gesehen, dass Gott es getan hat, dass er aufgenommen, getröstet, gewaschen, geliebt hat“ (ebd.). An einem Sonntag bat Franziskus seine Zuhörer auf dem Petersplatz einmal um eine kleine praktische Übung: „In Stille wollen wir alle nachdenken… jeder denke an einen Menschen, mit dem wir nicht gut stehen, auf den wir zornig sind, den wir nicht gern haben. Denken wir an jenen Menschen und beten wir in Stille, in diesem Augenblick, für diese Person und werden wir barmherzig gegenüber diesem Menschen“ (Angelus, 15.9.13).

An einem solchen Zitat – es gäbe noch viele weitere – können wir am besten ablesen, was Franziskus mit Barmherzigkeit meint: Er spricht vor allem als Seelsorger. Anders sieht es mit praktischen Folgerungen aus seinem Hohelied der Barmherzigkeit aus, vor allem bei kirchlichen Vorschriften; da geht der Papst nicht ins Detail. Beichtvätern rät er immer wieder, sie sollten nicht zu streng sein, aber auch nicht zu lax. „Er will nicht die Lehre ändern, er ist ein Konservativer“, erklärt sein langjähriger Sprecher aus Buenos-Aires-Zeiten, Guillermo Marcó. „Aber er wird die Art und Weise, sich einem Problem zu nähern, verändern“ (in: Osservatore Romano, ital. Ausgabe, 19.3.14).

(Auszug aus: Stefan v. Kempis, Grundkurs Franziskus. Standpunkte, Bekenntnisse, Botschaften. Benno Verlag, Leipzig 2014)